Ich war nie weg, nur ganz leise

Hallo zusammen,

am 23. Januar 2020 habe ich euch noch vollkommen euphorisch von meiner Zulassung zur mündlichen Prüfung geschrieben. Und dann kam nichts mehr…
Ein Teil von euch wird mich vielleicht noch kennen und sich gefragt haben, wie es ausgegangen ist. Viele aber wissen wahrscheinlich überhaupt nicht, wer ich bin.

Die Prüfungssimulation in Bamberg ist anstrengend und toll zugleich. Ich kann diese euch nur empfehlen. Nach diesem Wochenende habe ich mich intensiv weitervorbereitet. Die Rechtsänderungen angelesen, Kurzvorträge geübt. Es läuft gut, aber dann…
kommt Donnerstag der 05. März.
Wir sind auf dem Weg zum Einkaufen, als meine Mutter anruft. Ich habe erst überhaupt nicht verstanden, was sie mir sagen will. Dann wird mir klar, mein Vater muss ein Schlaganfall haben. Wir sind noch vor dem Notarzt bei meinen Eltern. Die nächsten Tage werden entscheidend sein für ihn. Am Freitagabend- ein zweiter schwererer Schlaganfall. Ich bin wie im Tunnel. An dem Sonntag sitze ich neben seinem Bett. Er ist am Schlafen, ich lese neben ihm Steuer + Studium.

Montag, 09. März
Ich habe die mündliche Prüfung und bin eigentlich überhaupt nicht in der Verfassung anzutreten. Soll ich hin? Wie kann man sich entschuldigen? Wie reagiert die Prüfungskommission auf einen Ersatztermin? Ich bin nicht fähig zu entscheiden und fahre hin. Meine Mitprüflinge sind super nett. Ich werde viel gefragt und kann auch antworten. Als ich nach der Beratung alleine reingerufen werden, sind meine Mitprüflinge überrascht und gucken mich verständnislos an. Aber es ist wie es ist. Ich habe nicht bestanden. Ich bin vollkommen leer. Ich muss das alles erstmal verdauen um hier schreiben zu können, aber es geht Schlag auf Schlag. Mein Vater bekommt schon die ersten Reha Maßnahmen im Krankenhaus. Er wird zwar ein Handikap behalten und ob er noch einmal wieder alleine laufen kann, ist noch nicht klar, aber wir sind guter Dinge.

Samstag, 14. März
Der Lock down beginnt. Einen Tag vorher habe ich ziemlich plötzlich den Besuch bei meinem Vater abbrechen müssen, ihm aber versprochen am nächsten Tag wieder zu kommen. Es gibt keinen nächsten Tag. Es herrscht Besuchsverbot.

Mittwoch, 01. April
Mein Vater hat hohes Fieber. Es besteht der Verdacht auf Corona. Ein immobiler Mensch im Einzelzimmer steckt sich an Corona an? Am nächsten Tag kommt die Bestätigung der Test ist positiv. Es sind Dinge zu entscheiden. Welche Lebenserhaltende Maßnahmen dürfen/sollen angewendet werden? Beatmung? Reanimation? Welche Konsequenzen haben sie für ihn? Alles läuft telefonisch ab. Wir fühlen uns ziemlich hilflos. Ein Notarzt aus unserem Freundeskreis steht uns netterweise zur Seite. Die nächsten Wochen sind die Hölle. Das Krankenhaus gibt keine Auskünfte raus, selbst unser Hausarzt bekommt nur rudimentäre Informationen. Meine Mutter kann ihn in den nächsten Wochen mit Sondergenehmigungen ganze drei Mal für max. 20 Minuten besuchen. Er liegt orientierungslos alleine auf der Corona Station. Eine Seelsorgerin liest ihm Briefe von uns vor.

Samstag, 16. Mai
Der Lock down wird gelockert. Es ist morgens früh. Wir haben einen der ersten Friseurtermine ergattert. Ich freue mich. Ich darf nach über neun Wochen meinen Vater am nächsten Tag besuchen. Das Handy klingelt, meine Mutter ist dran. Die Rehaklinik hat angerufen. Mein Vater ist in der Nacht mit 66 Jahren an den Corona Spätfolgen gestorben. Er ist in unserem Kreis der Verstorbene Nummer 18, inzwischen sind es hier 160.
Die nächsten Wochen laufen wie im Film an mir vorbei. Wut, Schmerz.

Ich habe die ganze Zeit den Blog weiterverfolgt, mit Beate mitgefiebert, eure Kommentare gelesen und immer wieder überlegt, wann ist die richtige Zeit meine Geschichte zu vervollständigen? Wie sind eure Reaktionen? Kommt die Frage „Was hat die Geschichte von deinem Vater mit dem Blog zu tun?“ oder „Er hatte doch eine schwere Vorerkrankung.“
Irgendwann kommt der Entschluss, so kann es nicht weitergehen. Es muss wieder nach vorne gehen. Es folgen lange Gespräche mit meiner Familie. Ein langes Telefongespräch mit Beate hat mir dann endgültig geholfen. Sie sagte so schön, „Was hättest du auch schreiben sollen, die Geschichte ist nun mal nicht sexy“ Recht hat sie.

Ich werde wieder antreten, das bin ich meinem Vater schuldig!

Aber nicht dieses Jahr, denn wie wir alle wissen:
Im Examensjahr wird nicht geheiratet, kein Haus gekauft oder gebaut und kein Kind geboren. Das lenkt zu viel ab.
Ich werde meinen Weg zum Steuerberatertitel weitergehen, den Blog verfolgen und wenn ihr wollt euch weiter von meinem Weg berichten.
Ich wünsche euch alles Gute. Passt auf euch auf und genießt das Leben

Annika